Ich bin ein Kind der Wende. Das klingt vermessen, denn um der Wahrheit die Ehre zu erweisen, habe ich einfach nur die Zeit nach dem Abi und vor dem Zivildienst genossen, während die Menschen in der DDR, in Ungarn, Polen und vielen anderen Ländern mit ihrem Mut dafür gesorgt haben, dass nicht nur Mauern, sondern ganze politische Weltsysteme einstürzen. Aber das hat mich dann in der Folge angezündet und euphorisiert. Seitdem bin ich politischer Utopist und glaube leidenschaftlich daran, dass die Mehrheit der Menschen möchte, dass die Welt ein besserer Ort wird. Die unverstellte Zeit des Jubilierens und Utopierens währte noch nicht mal ein Jahr – dann hatten Baumärkte, Parteiführer, Ölkonzernbetreiber und Pop-Up-Pornoläden das unbekümmerte politische Ausprobieren und den eigenständigen Weg zur Demokratie überwölbt und die Hoffnung auf eine grundlegende Weiterentwicklung mit dem üblichen Mix aus Macht und Konsum betäubt. Trotzdem. Trotzdem bin ich Utopist geblieben.
Aber heute?
Heute sitze ich hier, während zwei furchtbare Kriege in unserer Nachbarschaft toben und die Filterblasen laut knallen, wenn sie aufeinander prallen. Ich habe den Kriegsdienst verweigert. Nicht aus Faulheit, sondern aus Überzeugung. Weil es für mich keinen einzigen Grund auf der ganzen Welt gibt, der das Töten eines anderen Menschen rechtfertigt. Und heute? Wird massenhaft getötet und dazu gejubelt. Werden Menschen und Ressourcen zerstört, während wir doch eigentlich daran arbeiten müssten, diese Ressourcen zu schützen und zu schonen.
Was sagt der Utopist in mir?
Momentan schweigt er fassungslos. Weil es so viel schwieriger zu sein scheint, Konflikte durch Gespräche und Willensbekundungen zu lösen, als es vor 35 Jahren zu sein schien. Oder? Wie kommen wir alle zurück ins Gespräch? Wie kommen wir runter von der reflexartigen Empörung über kleine und kleinste Dinge, die unser Gesprächsklima derzeit vergiftet? Gerade bin ich auch ein bisschen ratlos. Wer weiß, wie man Utopisten wieder wecken kann, möge sich melden!