Keine Maske aus Coolness
Es gibt Menschen, die scheinbar ohne Visier durchs Leben gehen. Die sich nicht auf eine Maske aus Coolness verlassen können. Oder wollen. Und denen man wunderbarerweise ihre Gefühle und Empfindungen direkt ansieht. Die Musikerin Liv Solveig macht genau diesen Eindruck. Als wir sie auf dem Gelände der alten Konsum-Fleischerei in der Josef-Orlopp-Straße treffen, fällt es sofort auf. Zwei Wochen im März wollte sie in Lichtenberg bleiben, um den ersten Lockdown in Ruhe auszuhalten. Abgeschieden von der Hektik ihrer Musiker*innen-Community in Neukölln abzuwarten und .
„Das rettet mein Leben gerade“ – Liv Solveig
Mittlerweile sind es acht Monate geworden. Acht Monate, in denen ihr das Symphonie-Orchester in ihrem Kopf die Ruhe und den Halt gegeben hat, um nicht an der Situation zu verzweifeln. „Das rettet mein Leben gerade“, sagt die deutsch-norwegische Musikerin, und meint damit die Möglichkeit, das Musikmachen, das Komponieren, das Aufschichten von Sound-Texturen und Arrangements im eigenen Kopf als Refugium zu haben.
Liv Solveig Wagner ist Profi-Musikerin. Sie hat Violine in Deutschland und Jazz-Gesang in New York studiert und geht als Gastmusikerin mit Acts wie Alin Coen, Tuva Band oder Safi auf Tour. Oder sie arbeitet an ihrem eigenen Soloalbum, dem zweiten seit 2014, das eigentlich im Herbst 2020 erscheinen sollte. Ohne Konzerte aber lässt sich kein Album promoten und ohne Promotion kann eine junge Künstlerin nicht in dem Maß auf sich aufmerksam machen, wie es ihr orchestraler Indiepop verdient. Aber weder diese Unsicherheit noch die Tatsache, dass durch den zweiten Lockdown eine Tournee mit Alin Coen in 20 Städten mit 20 Konzerten abgesagt wurde, löst bei Liv Solveig Bitterkeit oder Frustration aus. Angst vielleicht – denn mit diesen Konzerten und Jobs ist nun einmal die eigene Existenz als Musikerin verknüpft. Diese Angst blitzt in einzelnen Formulierungen durch. Nicht als Panik, aber als realistische Einschätzung der Situation.
Doch wenn man sie sieht, wenn man sie spielen hört, scheint es schier unvorstellbar, dass Liv Solveig jemals darüber nachdenkt, etwas anderes als Musik zu machen, wenn die Pandemie noch lange anhält und Konzerte weiterhin unmöglich sind. Sie ist in der bemerkenswert glücklichen Lage, sich in den meisten aller Momente auf das Positive konzentrieren zu können. Die Musik zeigt ihr diesen Weg. Oder ihr Hund, mit dem sie ausgedehnte Spaziergänge durch Lichtenberg macht, auf denen sie Orte wie die alte Konsum-Fleischerei in der Josef-Orlopp-Straße entdeckt. Seit 1994 stehen die Maschinen hier still. Ein Teil des Gebäudekomplexes steht weiterhin leer und ist zu einem Atelier für zahlreiche Streetart-Künstler*innen geworden.
Foto: Jim Kroft