Die Hoffnung, es möge nur ein Stück Gurke gewesen sein, erstarb nach etwas mehr als einer Viertelstunde und vielerlei in dieser Zeit zurück gelegten Bahn-Kilometern. Niemand kaut derartig lang an einer Gurke herum. Impossible. Längst wäre grüner, hochgradig flüssiger Speisebrei all over the place. Doch zugleich: Wer ist in der Lage, aus einem harmlosen, handelsüblichen Stück Kaugummi einen derartigen Sound herauszumalmen? Wessen Kiefer bringen in heimlicher Allianz mit den Speicheldrüsen den Mut auf, den auralen Kampf gegen Slayer anzunehmen? Nächster Halt leider erst Hamburg Hauptbahnhof.
Ich muss mein Gegenüber gar nicht anschauen, werde ich doch von den unablässig mahlenden Kieferbewegungen permanent penetriert. Sie hämmern sich in mein Gesichtsfeld, so aufdringlich und unerwünscht wie die zwischenzeitlichen Einblendungen von der rhythmischen Sportgymnastik an einem ansonsten herrlichen Olympia-TV-Abend. Nur nicht so elegant, nicht so geräuschlos wie rhythmische Sportgymnastik.
Und es drängt sich die Frage auf, wie es sein kann, dass ein ganzes Großraumabteil erfüllt sein kann vom Geräusch des Kaugummikauers während die Sportgymnasten ihren ganzen kleinen Körper in Bewegung bringen, springen, spreizen, abrollen – und es ist nichts zu hören. Gut, auf Platz 23 schnarcht ein Reisender in beschaulicher Einfalt. Aber auch das ist Elfengesang gegen den Kauleisten-Deathcore mir gegenüber, auf der anderen Seite der Tischkante.
Linker Hand das friedfertige Miteinander von Frühnebel, Sonne und Auenlandschaft. Rechter Hand das friedfertige Miteinander von Frühnebel, Sonne und Auenlandschaft. Gewissermaßen die Joanna Newsome der distanzierten Naturerfahrung. Innere Stille, gar Gelassenheit bei 186 Stundenkilometern. Gestört nur vom Kerry King der Kaugummi-Perforation – schier unglaublich die Vorstellung, dass das wehrlose Ding in seinem zerstörerischen Mund noch ein ganzes, vollständiges Stück sein soll. Ich stelle mir die Konsistenz eher vor wie die Ränder einer Briefmarke, nur ohne ein bedrucktes, glattes Stück des postalischen Ausruhens in der Mitte.
Jetzt auch noch Lächeln – sanft, hintergründig, sich des Mordes, der heimtückischen Zerstückelung eines wehrlosen Kaugummis und der Geräuschpenetration aller verzweifelt nach Ruhe suchenden bewusst!
Habe ich erwähnt, dass ich Kaugeräusche nicht mag?