Es wird kalt in Berlin…
… und das hat weniger mit dem sich ankündigenden Wetter zu tun als mit der politischen Wetterlage. Der über die Finanzpolitik in Berlin ausgelöste Bruch mit der bisher gelebten Kultur-, Sozial-, Diversitäts- und und Inklusionspolitik macht mich auch eine Woche nach der Veröffentlichung der Gift- bzw. Streichliste des Berliner Senats fassungslos und wütend. Die dramatischen Folgen und die gesellschaftlichen Einschnitte der neuen Agenda werden Stück für Stück und Tag für Tag deutlicher. Dieses neue Berlin wird kälter, weil es marginalisierte Gruppen ihre mühsam errungenen Chancen zur Wahrnehmung und Teilhabe wieder wegnimmt. Und es liest sich, als ob man mittlerweile Kinder und Jugendliche im ganz allgemeinen auch zu den „marginalisierten Gruppen“ zählen muss. Radikale Streichungen im Bereich des Kindertheaters, der Teilhabe und kulturellen wie politischen Bildung über den Museumssonntag, Kürzungen im Budget für Klassenfahrten – unter die nach meinem bescheidenen Wissen auch ganz explizit Reisen in Konzentrationslager und Gedenkstätten wie Auschwitz und Sachsenhausen fallen.
Wohlbemerkt: Ich widersetze mich nicht der Notwendigkeit des Sparens und des Ziels, ausgeglichene öffentliche Haushalte zu erzielen. Ich nehme auch keinerlei Förderung für gottgegeben und in Ewigkeit Amen bzw. als Erbpachtrecht hin, das über Generationen quasi leistungsfrei weitervererbt wird. Aber ich stelle fest, dass es das systemische Vorgehen der schwarz-roten Koalition und die im Detail nun doch höchst ungleiche Verteilung der Sparziele sind, die mich wütend und fassungslos machen. Zum letztmöglichen Zeitpunkt und ohne Gespräche mit den Betroffenen wird eine Liste publiziert. Statt die eineinhalb Jahre für langfristige Planziele im Dialog mit den Geförderten (heute muss man sagen: Gekürzten) zu nutzen, entmündigt man eine ganz Stadt mit ihren wichtigen Institutionen und Träger*innen der sozialen Funktion einer lebhaften Stadtgesellschaft. Statt den reinen (und in diesem Fall sehr bitteren) Wein von vornherein und in aller Offenheit einzuschenken, verschweigt man hinter den groß angekündigten Sparzielen zum Beispiel im Bereich der Kultur, dass auch für die notwendigen Tariferhöhungen kein Geld da ist und die Häuser und Institutionen diesen Aufwuchs aus ihren eigenen Mitteln zahlen müssen. De facto ein zweiter Kürzungsschritt. Man überlässt die Neugestaltung der gesamten Stadt Berlin im Kern zwei Menschen – den Haushältern der Christlich Demokratischen Union und der Sozialdemokratischen Partei Berlins. Ja, aktuell übersieht man das wieder recht schnell, weil die Duckhaltung so gefährlich nah oberhalb des Fußbodens endet: auch die SPD ist in dieser Regierung und verantwortet das alles mit.
Und man denkt im doppelten Sinn: Die inhaltlich-gesellschaftlichen Effekte dieser sogenannten Sparpolitik sind weder sozial noch christlich. Im Exkludieren und Abwickeln von Angeboten, die Teilhabe, Inklusion und gesellschaftliche Bildung ermöglicht und damit zu einer funktionierenden Stadtgesellschaft beigetragen haben, scheint man dem Denken und den Forderungen der antidemokratischen Parteien vorzugreifen. Und wieder müssen die Extremisten nichts anderes tun, als sich eine XXL-Portion Popcorn zu schnappen und zuzuschauen, wie sich die demokratische Gesellschaft von selbst und von innen aushöhlt.
Was mich aber aktuell am meisten verletzt, ist der Diskurs und ist das Narrativ, das vor allem im Kulturbereich wieder eingeführt wird und von dem ich hoffte, man hätte es überwunden. Finanz- und Kultursenator reden einem Kulturmodell das Wort, das endlich wieder lernen müsse, den eigenen Finanzierungsbedarf aus der eigenen Wirtschaftskraft zu decken. Von endlosen Subventionsströmen sprach der Finanzsenator, von der Berghainisierung der gesamten Kultur sprach der Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Damit wird wieder das Narrativ von der Kultur als lästigem Kostgänger der hart arbeitenden und die Steuern erwirtschaftenden Gesellschaft gestreut, wie es zumindest in Westdeutschland über Jahrzehnte üblich war. Kultur als Amüsierbetrieb, den man sich leisten können muss und der es auch zu ertragen hat, wenn man ihn mal abschaltet, weil eben nicht genug Geld da ist. Kulturschaffende, die sich ihrer „Leichtigkeit“ oder der nicht vorhandenen Systemrelevanz bewusst zu sein haben, die der Wirtschaft auf der Tasche liegen und die jetzt endlich mal für sich selbst sorgen sollen. Da ist man gefährlich nah an der unsäglichen Diskussion, die über das „Bürgergeld nur für Arbeitswillige“ geführt wird. Und gefährlich nah am einstigen höfischen Modell der Kunst, wo der Narr auch nur so lang Witze erzählen durfte, wie es dem Monarchen beliebte.
Frage: gilt das Modell der Berghainisierung eigentlich auch für andere Wirtschaftsbereiche? Hat man der Autoindustrie vor der Verabreichung von Milliardensubventionen auch mal mitgeteilt, dass man nun mal lernen müsse, ohne Subventionen auszukommen? In welchem Verhältnis und welchem Begründungszusammenhang steht Wirtschaftssubvention zu Kultursubvention? Warum ist im neuen Narrativ das eine so gut und so systemrelevant, dasss man es noch nicht einmal in Frage stellt, während man das andere auf das Niveau der Haustierhaltung zurechtstutzt?
Hinter verschlossenen Türen wird Freude laut, dass das ganze „sozialistische“ Kulturmodell nun endlich weg ist, so hört man, und füttert mit solchen Aussagen das Narrativ weiter, das einen ganz wichtigen Aspekt und eine zentrale Aufgabe von Kultur negiert oder in den Bereich des Niedlichen verbannt: die gesellschaftliche Funktion von Kultur. Wenn heutzutage Jugendtheater und große Musikfestivals schon ganze Workshops und Kommunikationskampagnen aufbereiten müssen, um junge Menschen wenigstens für die Dauer eines Konzerts oder eines Theaterstücks wegzubekommen vom Handy. Wenn wir gleichzeitig nach jeder Wahl von den Wahlkommentatoren und Statistikern hören, dass diejenigen Parteien Wahlen gewinnen, die die beste (und das heißt auf social media immer: die radikalste und am wenigsten inhaltsgetriebene) TikTok-Kampagne fahren. Wenn es heutzutage (selbst erlebt und das nicht nur ein Mal) nicht mehr sanktionswürdig ist, dass offenkundig Rechtsradikale mit der Reichskriegsflagge auf dem T-Shirt nach Buchenwald oder in andere Holocaust-Gedenkstätten gehen, dann muss man doch einfach feststellen, dass wir nicht nur einen finanziellen Notstand im öffentlichen Bereich haben, sondern vor allem einen Werte- und Bildungsnotstand.
Kultur, kulturelle Bildung, Kunst-, Museums- oder Theaterpädagogik, das gemeinsame Erleben eines kulturellen Ereignisses sind nachweislich wichtige Bausteine für eine gesunde, resiliente, stabile Stadtgesellschaft. Aber genau hier wird die Kürzungskettensäge angesetzt. Und hier setzt das übergreifende Narrativ der Verantwortlichen an: Kultur muss man sich leisten können – und das können wir halt gerade nicht. Anwohnerparkplätze für 10 Euro im Jahr muss man sich auch leisten können. Eine Magnetschwebebahn muss man sich ebenfalls leisten können. Ein neues Stadion für einen Fußballklub der zweiten Liga muss man sich ebenfalls leisten können. Ich schreibe dies, weil in der berechtigten Aufregung über die Kürzungen eines gerade (und wahrscheinlich nicht ohne kommunikativen Hintersinn) komplett in Vergessenheit gerät bzw. im öffentlichen Diskurs nicht mehr stattfindet: wofür ist dieser Senat bereit, Geld auszugeben oder Steuergeschenke in Form von Nichterhöhung bestimmter Leistungen der Stadtgesellschaft zu machen? Das ist der zweite Teil der neuen Agenda, die wir gerade erleben und die nur ein Präludium für das ist, was mit Deutschland insgesamt passieren wird, wenn wir ab März eine schwarz-rote Regierung auch im Bund haben werden.