Musik = Risiko? – eine Schmugglerware, mit deren Aufnahme, Verkauf und Vertrieb man Gefahr läuft, verfolgt und verhaftet zu werden? Das ist eine Vorstellung, die für junge Menschen, die heute in Berlin leben, fast schon undenkbar, mindestens aber historisch ist.
Durch Streamingdienste, Medien, Tonträger und andere Verbreitungswege hat man einen 24/7-Zugang zu einer unglaublichen Vielfalt von Stilen, Sounds, Musiken und den in ihnen verpackten, durchaus auch kritischen Aussagen. Meinungs- und Kunstfreiheit sind zentrale Elemente unserer demokratischen Verfassung und bieten damit auch rechtlichen Schutz vor staatlicher Verfolgung und Zensur.
Kaum noch fassbar erscheint das Risiko, das Menschen wie Mikhail Farafanov auf sich genommen haben, um Zugang zu der Musik zu bekommen, die sie leidenschaftlich liebten und von der sie wollten, dass auch andere Menschen spüren, welche Kraft, welches Leben in dieser Musik steckt.
Die Geschichte hinter BONE MUSIC
Die Geschichte unserer Ausstellung BONE MUSIC – X-Ray Audio Projekt beginnt in der UdSSR der Nachkriegszeit. In der Stalin-Ära mit ihren politischen und oft auch ethnisch motivierten Verfolgungen. Wie an so vielen anderen Orten auf der Welt suchte die Jugend nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs nach einer neuen und vor allem eigenen Identität. Musik war und ist bis heute ein wichtiger Faktor und Begleiter auf diesem Weg und sie stößt mit dem in ihr formulierten Freiheitsdrang immer wieder an Grenzen und provoziert Konflikte. Ein Phänomen, das beileibe nicht auf den geografischen Osten und die einstigen kommunistischen Staaten beschränkt ist – der Clash der Generationen hat viele Facetten.
Mit ihrer tiefgründigen Recherche zum „Röntgenzidat“, dem Verbreiten von staatlich nicht geduldeter Musik auf eigens zurecht geschnittenen Röntgenbildern in der UdSSR haben die Kuratoren Stephen Coates, Paul Heartfield und Sergej Korsakov ein faszinierendes Kapitel aus der Vergangenheit sichtbar gemacht, das wir nach Ausstellungsstationen in St. Petersburg, Tokyo, London oder Tel Aviv zum ersten Mal in Berlin präsentieren dürfen. BONE MUSIC erzählt von der nicht zu bändigenden Kreativität, der technischen Gewitztheit und natürlich auch vom persönlichen Risiko, das die Schmuggler der heißen Sounds auf sich genommen haben.
Ein historischer Ort, ein historisches Datum
Auch wenn wir mit der Ausstellung und dem Begleitprogramm zu BONE MUSIC eintauchen in ein anderes Jahrzehnt, mittlerweile sogar in ein anderes Jahrhundert und in ein anderes Land, sollten wir uns trotzdem nicht zurücklehnen und uns der Illusion hingeben, dass dieser Konflikt zwischen kreativer Freiheit und politischen oder ökonomischen Interessen ein fernes oder gar vergangenes Phänomen sei. Das ist genau der Grund, warum wir BONE MUSIC in diesem Jahr an diesen Ort in Berlin holen.
Wenn wir die Ausstellung eröffnen, denken wir zugleich an den 60. Jahrestag des Mauerbaus, der Berlin, Deutschland und die Welt zerteilte. Wenn wir die Ausstellung nach Lichtenberg in die Villa Heike, in die Studios ID und in die Gedenkstätte Hohenschönhausen bringen, dann platzieren wir sie im ehemaligen Sperrgebiet der Staatssicherheit und in direkter Nähe zum Untersuchungsgefängnis, in dem auch Menschen inhaftiert waren, die sich beispielsweise solidarisch mit Wolf Biermann erklärt oder ein Punk-Fanzine in der DDR veröffentlicht haben.
Musik = Risiko? Welches Risiko birgt Kunst heute?
Doch unser thematischer Faden zieht sich noch weiter und kommt wieder in der Gegenwart an. Denn natürlich ist das Spannungsverhältnis von Musik und Zensur, von kreativer Freiheit und gegenteiligen Interessen weiterhin aktuell – und das nicht nur in Ländern, die von Bürgerkriegen, Terror oder religiösem Fanatismus gezeichnet sind. Auch in unseren europäischen Demokratien müssen wir immer wieder eintreten für kreative Freiheiten, für den Wert der Kunst und dafür, dass auch sperrige, unbequeme Meinungen oder Sounds Gehör finden. Denn das ist bei aller bequemen Verfügbarkeit von Musik auf dem Smartphone längst keine Selbstverständlichkeit mehr, wenn wir den Algorithmen die Definition unseres Musikgeschmacks überlassen.
Die Risiken verändern sich sicherlich immer wieder und sie sind hier und heute gottseidank ganz anderer Art, als sie es in der Sowjetunion der Nachkriegszeit waren. Doch Musik und alle anderen Formen von künstlerischem und kreativem Ausdruck bergen ein Risiko – und wenn wir mit der Ausstellung BONE MUSIC und ihrem Rahmenprogramm einen Wunsch und ein Ziel verfolgen, dann ist es die Ermutigung dazu, das Risiko auf sich zu nehmen, Veränderungen anzustoßen und sich nicht der Bequemlichkeit des problemlos Erreichbaren hinzugeben.
Ich danke ganz herzlich den Kuratoren der Ausstellung für die tolle Zusammenarbeit, meinen Kolleg:innen im Fachhandel für Ereignisse für die perfekte Organisation, der Gedenkstätte Hohenschönhausen und dem Kulturkaufhaus Dussmann für die Zusammenarbeit und dem Hauptstadtkulturfonds sowie dem Bezirksamt Lichtenberg für die finanzielle Unterstützung.
BONE MUSIC – X-Ray Audio Projekt
Datum: 14.8. bis 5.9.2021 immer Do – So 12:00 – 20:00 Uhr
Ort: Villa Heike
Eintritt: frei
Alle Informationen zur Ausstellung unter bonemusic.berlin
Fotos: © X-Ray Audio Project / Paul Heartfield